Ein kritischer Blick auf das Wörterbuch
Die Auseinandersetzung mit einem bald 150 Jahre alten Wörterbuch führt zwangsläufig zu Fragen der Aktualität von Methoden und Inhalten. Bei einer Digitalisierung stellen sich diese umso eindringlicher und verlangen nach Entscheidungen. Im Zuge der Digitalisierung des Aargauer Wörterbuchs trafen die Projektverantwortlichen von Hunziker2020 diverse Entscheidungen technischer Art, welche den modernen Leser*innen den Zugang zum Wörterbuch vereinfachen sollen; so zum Beispiel das Umwandeln der alten Fraktur-Schrift in moderne Antiqua-Schriftarten. Weitaus umstrittener waren jedoch Entscheidungen auf inhaltlicher Ebene. Beim kritischen Betrachten des Wörterbuchs fiel auf, wie sehr darin wiedergegebene Ausdrücke und Kommentare mit heutigen egalitären Idealen kollidieren. Schliesslich hat sich das Projektteam gegen eine inhaltliche Überarbeitung des Wörterbuchs und für die Behandlung desselben als Zeitdokument entschieden. Nichtsdestoweniger soll dieser spannende und kontroverse Aspekt der historisch-lexikografischen Arbeit an dieser Stelle kommentiert werden.
Anna Walter, Mitarbeiterin Digitalisierung am Projekt Hunziker2020, setzte sich intensiv damit auseinander. Entstanden ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Sprachbewusstsein im Alltag und für die Verantwortung, die man als Sprachteilnehmer*in trägt (Download siehe rechts):
1877 vs. heute – Kann man das Weib einfach so digitalisieren?
von Anna Walter
Ich sitze an meinem Laptop und arbeite an der Digitalisierung von Hunzikers Wörterbuch aus dem Jahr 1877. Hier finden sich Mundartwörter, die schon längst in Vergessenheit geraten sind und durch Hunzikers Dokumentation wieder in Erinnerung gerufen werden, und solche, die noch immer ein fester Bestandteil unserer alltäglichen Sprache sind. Wort für Wort vergleiche ich das Original mit dem Scan, korrigiere hie und da einen Fehler im Digitalisat, am Schluss soll ja alles korrekt im digitalen Wörterbuch dargestellt werden. Doch bei einzelnen Passagen stocke ich. Ich habe Mühe, sie so stehen zu lassen. Es sind Ausdrücke, die aus heutiger Sicht misogyn, antisemitisch oder rassistisch sind. Waren sie 1877 noch nicht negativ konnotiert? Oder auch schon damals problematisch und dennoch so gängig, dass sie Eingang in das Wörterbuch gefunden haben? Und was ist, wenn wir sie heute, mehr als 140 Jahre später, genau so wiedergeben? Veröffentlichen wir bloss ein Wörterbuch als Zeitzeuge oder reproduzieren wir dadurch Misogynie, Antisemitismus und Rassismus? Ein Wort, auf das ich in Hunzikers Wörterbuch immer wieder stosse, ist Weib. Heute ist der abwertende Ton, den das Wort mit sich bringt, nicht mehr wegzudenken. Doch das war nicht immer so. Im Alt- und Mittelhochdeutschen war Weib eine neutrale Bezeichnung für Frau*. Der Begriff erfuhr erst später eine Bedeutungsverschlechterung. Nun könnte man davon ausgehen, dass sich Hunziker der pejorativen Bedeutung nicht bewusst war, denn er verwendet in seinen Erklärungen mal den Begriff Frau («Von einer sehr beleibten Frau sagt man: Chlungeli»), mal Weib («e blödi Frou, ein schüchternes oder ein schwächliches Weib»). Aus seinem Eintrag zum Lemma Wiib geht jedoch deutlich hervor, dass Hunziker im Bilde war: Wiib, das, Weib; Mz. Wiiber; vkl. Wiibli. Der Singular ist nur selten; er bezeichnet nie die Ehefrau (Frou), sondern nur das Geschlecht mit verächtlichem Nebenbegriff: es alts Wiib; er ist es rächts Wiib. Hunziker erwähnt bereits die verächtliche Konnotation der Bezeichnung Weib. Umso weniger verstehe ich, weshalb Hunziker den Begriff trotzdem verwendet, auch dort, wo er nicht Teil eines Lemmas ist. Weib war 1877 nicht mehr wertungsfrei und ist es heute wohl noch weniger. Weib fällt mir nicht nur durch seine Bedeutungsverschlechterung auf, sondern auch im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Betrachtungsweisen auf Männer* und Frauen*. Allgemein lässt sich beobachten, dass Hunziker bei negativen Bezeichnungen für Frauen* tendenziell den Begriff Weib(sperson) benutzt, wie zum Beispiel «Hoogge: gilt auch als Scheltwort für ein garstiges Weib». Bei negativen Bezeichnungen für Männer* benutzt er Kerl («Mistfink, der, schmutziger Kerl»), eine meiner Meinung nach deutlich weniger verächtlich konnotierte Bezeichnung. Wird etwas in Bezug auf Frauen* thematisiert, das unmarkiert ist, verwendet Hunziker in der Bedeutungsangabe mal Weib («Bärmueter, die, Gebärmutter beim Weibe»), mal Frau* («sie het iri Stöör, von der monatlichen Reinigung der Frauen»). Letzterer Eintrag ist besonders stossend. Stöör wird beim Mann* als Krankheit verstanden, bei der Frau* jedoch als Menstruation. Menstruation mit einer Krankheit zu vergleichen, gar gleichzusetzen, ist verachtend gegenüber allen menstruierenden Menschen. Zu menstruieren war und ist keine Krankheit, weder 1877 noch 2020. Generell lässt sich im Wörterbuch von 1877 ein grosses Ungleichgewicht in der Bewertung von Frauen* und Männern* beobachten. Begriffe, die als verächtlich bezeichnet werden, wie «Gschöpf, das, verächtlich von einer Weibsperson gesagt», findet man nur im Kontext mit Frauen*, Juden oder Waren, aber niemals im Zusammenhang mit Männern*. Mädchen* werden in Spottreimen wie «d’Buebe schmöket wol und d’Meitli stinke» verspottet, zu Jungen* lassen sich keine derartigen Sprüche finden. Ein weiteres Beispiel sind abwertende Adjektive, die häufig im Zusammenhang mit Frau* oder allgemein Mensch Verwendung finden, jedoch nie im Zusammenhang mit Mann*: einfältig liederlich schlampig unsittlich Es scheint so, als hätte die Sprache ein grosses Bedürfnis nach Vokabular gehabt, um Frauen* der Unsittlichkeit bezichtigen zu können. Rein quantitativ finden sich zudem im Wörterbuch mehr explizit deklarierte Scheltwörter für Frauen* als für Männer*. Weshalb also wird explizit erwähnt, wenn sich ein Scheltwort oder abwertendes Adjektiv auf Frauen* bezieht, nicht aber, wenn es sich auf Männer* bezieht? Es sieht fast danach aus, als unterscheide Hunziker nicht zwischen Frau* und Mann*, sondern vielmehr zwischen Frau* und Mensch. Der Mann* wird als Standard genommen und alles, was die Frau* betrifft, gilt als Abweichung. Weiter fallen mir die patriarchalischen Züge auf, die das Wörterbuch abbildet. Sie zeigen sich besonders in Ausdrücken zum Thema Heirat. Kleinen Mädchen wird versprochen: «wenn d’einist grooss bist, so muest e Maa haa!» und «Töchter, so lange sie unverheiratet sind, heissen Chind.» Dies sind meine Beobachtungen, das, worüber ich gestolpert bin. Kübra Gümüsay fordert in ihrem Buch «Sprache und Sein», sich mit den Perspektiven der Sprechenden auseinanderzusetzen: «Wer erklärt die Welt? Wer beschreibt, wer wird beschrieben? Wer benennt und wer wird benannt? (...) Wer hat die Autorität, Erfahrungen, Situationen, Ereignisse, Personen und Personengruppen zu benennen?»1 Es geht also immer darum, wer spricht und wessen Perspektive eingenommen wird. So sind auch Hunzikers Beschreibungen und Formulierungen von seiner Perspektive geprägt. Er hatte keinen neutralen Blick auf die Welt, sondern war von seiner Lebensrealität beeinflusst. Grundsätzlich muss man als Lexikograf*in, Ethnograf*in oder Forscher*in im Allgemeinen nicht hinter dem stehen, was man beobachtet und wiedergibt. Aber man hat dennoch eine Verantwortung dafür, wie man etwas wiedergibt. Sprache hat so viel Macht. Wir müssen uns dieser bewusst sein. Auch beim alltäglichen Sprachgebrauch. Und besonders bei der Veröffentlichung eines Wörterbuches, bei der es gerade darum geht, Wörter bewusst wiederzugeben, Sprache aufzuzeigen, festzuhalten, da ist es umso wichtiger, dass man sich dieser Verantwortung bewusst ist. Wie also wollen wir heute mit einem Buch aus dem Jahr 1877 umgehen, das sprachlich ein wahrer Schatz für alle Mundartbegeisterten ist und gleichzeitig aber mit sich bringt, dass gerade in dieser Sprache auch so viel Problematik liegt?
«Toori oder Tööri, das, einfältiges Weib», «Tschaagg, der, einfältiger Mensch»
«Täsche, die, (...) liederliche Weibsperson», «Läder, das, (...) Dirne, liederliche Frau», «Loter, der, zerfahrener liederlicher Mensch», «Lümpli, liederlicher Mensch», «Schleipfe, die, (...) liederliche Weibsperson»
«Hootsch, der, schlampiger Mensch, namentlich von Weibern», «Höüsi, das, schlampiges Weib», «Tohe, der, (...) Gilt auch für eine schlampige Weibsperson, oder allgemeiner für einen Tölpel und langsamen Menschen»
«Luenz, die, unsittliches Weib», «si ist es Fäl, eine rohe, unsittliche Weibsperson», «Leutsch, der und die, unsittliche vagabundierende Weibsperson», «Loos, die, (...) unsittliches Weib», «Mööz, die, unsittliche Weibsperson», «Schnalle, die, (...) unsittliche Weibsperson»
«’s ist e Raffle: es ist ein geiziges zänkisches Weib», «Riibiise, das, (...) Scheltwort für ein zänkisches Weib», «Zanggiise, das, zänkische Person»
Das zeigt, dass Frauen* keine selbständigen Personen sein konnten. Als Chind unterstanden sie der Gewalt des Vaters und als verheiratete Frau* der des Ehemannes*.
Patty Basler schreibt in einem Beitrag für Hunziker2020: «‹Basler-Jümpferli, mach s’Fänschter zue!›, hett de Pfarrer grüeft. Für ihn sind alli Meitli Jümpferli gsi. Bi de Buebe hett är kei Diagnose gstellt bezüglich Jungfräulichkeit.» Auch bei Hunziker lässt sich beobachten, dass die Jungfräulichkeit der Frau* immer wieder zum Thema gemacht wird, nicht aber diejenige des Mannes*. So steht unter dem Lemma spreüjer: «Einer Braut, deren Jungfrauschaft angezweifelt wird, werden Spreuer vor das Haus gestreut.» Mädchen* wird als Schelte von «mutwilligen Jungen» nachgerufen «Jumpfere gsii» und in einem Kindervers wird gedichtet: «gigeligupf und brotisbei / d’Chnabe füere d’Jumpfere hei». Auch hier zeigt sich die unterschiedliche Betrachtungsweise auf Mädchen* und Jungen*. Eine Jumpfere ist ein «mannbares Mädchen», was so viel bedeutet wie «heiratsfähig». Eine entsprechende Bezeichnung für Jungen* und Männer*, zum Beispiel Jungmann, gibt es nicht.
Einerseits findet sich also die Jungfräulichkeit als Ideal für eine Frau*. Mädchen* werden verspottet, wenn sie sich auf einen Jungen* einlassen, wie im «Spottreim auf Mädchen: scho wider eini, scho wider eini am Bändeli ghaa!» Gleichzeitig werden sie objektifiziert und übersexualisiert, wenn unter dem Begriff Ware von «feilen Dirnen» die Rede ist, ein Ausdruck der sich auch noch im Jahr 2020 im Duden finden lässt.
Ersetzen wir Weib einfach überall durch Frau*? Technisch wäre das ja noch relativ einfach umzusetzen. Dabei müssen wir aber bedenken, dass auch die Bedeutung von Frau* sich mit der Zeit verändert. Und was machen wir mit all den Schimpf- und Spottwörtern für Frauen*? Und den patriarchalen Strukturen? Es wäre also ein sehr umfangreiches Unterfangen, den Sexismus komplett aus dem Wörterbuch zu verbannen.
Die Projektverantwortlichen von «Hunziker2020» haben sich dazu entschieden, das Wörterbuch als Zeitdokument zu sehen und keine Änderungen vorzunehmen. Das kann man so machen, auch wenn sie sich dadurch den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie dadurch Misogynie, Antisemitismus und Rassismus reproduzieren. Mir scheint bei diesem Vorgehen aber besonders wichtig, Bedeutungsverschlechterungen oder heutzutage problematische Aspekte nicht einfach totzuschweigen, sondern Veränderungen zu thematisieren und ins Bewusstsein zu rücken. Das mache ich mit diesem Essay.
Es geht mir aber nicht bloss darum, sondern um einen allgemein bewussteren Sprachgebrauch: Ich plädiere für mehr Sprachbewusstsein im Alltag und in der Wissenschaft. Das Bewusstsein darüber, dass man als Sprachteilnehmer*in immer eine Verantwortung trägt, dass Sprache nie wertfrei ist und immer einen gewissen Blickwinkel wiedergibt. Dieses Bewusstsein sollten wir alle haben. Denn die Sprache ist mächtig und sollte bewusst verwendet werden, wie Kübra Gümüsay schreibt: «Wenn Sprache unsere Betrachtung der Welt so fundamental lenkt – und damit auch beeinträchtigt –, dann ist sie keine Banalität, kein Nebenschauplatz politischer Auseinandersetzungen. Wenn sie der Stoff unseres Denkens und Lebens ist, dann müsste es selbstverständlich sein, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir einverstanden sind mit dieser Prägung.»2 Ich bin es mit Hunzikers nicht.
1 KÜBRA GÜMÜSAY: Sprache und Sein, München, 2020, S. 48ff.
2 KÜBRA GÜMÜSAY: Sprache und Sein, München, 2020, S. 23.